Ich sitze vor meinem Computer, ganze Welten vor mir, und langweile mich. Ich könnte eine Serie schauen oder eine Dokumentation über Oktopoden, die ich noch nicht kenne. Nachrichten wären eine Möglichkeit, sind mir jedoch zu anstrengend. Ebenso wie der Versuch, mit Musik die Stille zu vertreiben. Und das Telefon liegt zu weit von mir entfernt, um jemanden anzurufen. Zumal mich gerade niemand so sehr interessiert, dass ich mit ihm sprechen müsste.
Ich überlege, etwas zu schreiben. Seit Wochen beschwere ich mich darüber, dass ich keine Zeit zum Schreiben finde. Jetzt rede ich mir ein, dass die Zeit zum Schreiben mich noch nicht gefunden hat.
Ich mache irgendetwas, dessen Vorgang ich schon vergesse, bevor ich ihn vollends ausgeführt habe.
Eine Unendlichkeit der Möglichkeiten: Der Stapel der ungelesenen Bücher ist jüngst erst wieder auf fünf angewachsen, obwohl ich ihn zwischenzeitlich schon auf zwei runter hatte. Mindestens drei E-Mails verdienen meine Beachtung, ihre Beantwortung würde mir den nächsten Morgen erleichtern. Ein Freund wartet auf meine Anmerkungen zu seiner Geschichte, die ich eigentlich Lust hätte zu lesen. Und, nicht zu vergessen, die notierten Schlagworte in meinem Notizbuch, zu denen ich etwas recherchieren wollte. Überhaupt, mein Notizbuch … Vielleicht sollte ich doch etwas schreiben.
Ich schreibe nicht. Ich sitze da und denke. Ich denke an den Wald. Es gibt dafür keinen besonderen Grund. Plötzlich ist er da und gräbt seine Wurzeln in meine Gedanken. Sie lösen sich auf. Aus alten Zusammenhänge, die mich gar nicht mehr interessierten, entsteht etwas Neues.
Die Wiese ist feucht von einem kleinen Schauer. Sie wurde lange nicht gemäht, das Gras reicht mir bis über die Hüften. Ich bewege mich vorsichtig hindurch. Es gefällt mir nicht, wenn ich nicht sehe, was sich auf dem Boden befindet. Daher mag ich kein hohes Gras und noch weniger frisch gemähtes. Ich habe Angst vor den toten Tieren, die dort verborgen auf dem Boden liegen können. Würde ich auf eines treten, würde ich sterben. Darüber wären meine Eltern sehr unglücklich, und das möchte ich nicht.
Vorsichtig bewege ich mich durch das Gras, vor jedem Schritt einen Blick auf den Boden gerichtet, einen auf die Umgebung. Ich glaube nicht, dass sie in der Nähe sind. Wenn meine Koordinaten stimmen, bin ich weit von ihren Spähposten abgesetzt worden. Doch man kann nie wissen. Im letzten Herbst hätten sie mich an dieser Stelle fast erwischt. Sie haben von den Apfelbäumen Bomben auf mich geworfen.
Der Waldrand ist bald erreicht. Dort bin ich vor ihren Scannern sicher. Mein Herz klopft. Nur noch wenige Schritte. Ich schaue mich um. Soll ich es wagen zu rennen?
Um ein Haar ist es passiert. Im letzten Moment halte ich inne. Mein Fuß schwebt über einer toten Feldmaus. Ihr Schädel ist aufgeplatzt. Fliegen scharen sich um sie.
Panik erfasst mich. Ich vergesse alle Vorsicht. Mit einem Satz bin ich über den Kadaver gesprungen und renne in den Wald. Meine Augen suchen hektisch nach einem Pfad durch die Brennnesseln, während in mir alle Alarmglocken schrillen. Wenn ich mich geirrt habe, wenn doch Spähposten in der Nähe sind, dann war es das für mich. Jetzt müssten sie mich sehen!
Ich hetze durch die Brennnesseln, ihre Blätter vergiften meine nackten Waden. Ein Sprung, und ich bin im Wald. Ich renne zu einem kleinen Baum, klettere den glitschigen Stamm hinauf und kauere mich in eine Astgabel.
Mein Blick gleitet über die Wiese. Alles scheint ruhig. Doch bewegt sich dahinten nicht etwas im Gras? Und dort? Normalerweise wagen sie sich nicht in den Wald, da sie sich wegen der Bäume nicht auf ihre Scanner verlassen können. Aber wenn sie meine Fährte haben, werden sie nicht einfach aufgeben.
Ich klettere vom Baum. Jetzt darf ich kein Risiko eingehen. Meine einzige Hoffnung ist, schnell weiter in den Wald vorzudringen, um sie dort abzuschütteln. Vom Boden hebe ich einen langen Ast auf. Mit ihm kann ich mich zur Not verteidigen. Seine feuchte Rinde malt grünliche Streifen auf meine Handflächen.
Ich laufe weiter in den Wald hinein. Die normalen Pfade meide ich. Wenn es sich nicht vermeiden lässt, kreuze ich sie schnell. Die Bäume und Büsche sind meine Verbündeten. Bei ihnen bin ich sicher. Mich darf niemand entdecken.
Ich muss das Wrack finden. Es ist älter als ich, älter als meine Eltern und sogar älter als Opa. Es ist immer schon da gewesen. Nur wusste bisher niemand, wo man es findet, obwohl alle danach suchen. Ich habe die Koordinaten. Wenn ich es erreiche, kann ich das große Rätsel um die sprechenden Steine lösen, und die Wissenschaftler holen mich nach Hause.
Plötzlich höre ich ein Geräusch. Etwas ist in meiner Nähe. Es schleicht sich genau wie ich durch das Unterholz. Ist es einer meiner Feinde? Ich suche mir ein Versteck, halte den Stock fest umklammert und lausche. Wieder höre ich das Geräusch. Es ist ganz nah.
Dann ist es ruhig. Ich spüre seine Nähe, doch es bewegt sich nicht. Hat es mich entdeckt? Belauert es mich ebenso wie ich es? Ich habe nur eine Chance, wenn ich es überraschen oder ablenken kann. Ein Treffer aus ihren Kanonen und ich bin geliefert.
Vorsichtig verlagere ich mein Gewicht. Unter meinem Fuß knackt etwas.
Sofort werfe ich mich auf den feuchten Boden. Das Wesen rennt los. Es macht einen fürchterlichen Lärm. Bevor ich mein Gesicht in den Boden drücke, sehe ich Fell. Dann sehe ich nichts mehr.
Die Geräusche verstummen. Der Wald ist wieder still. Vorsichtig hebe ich den Kopf. Ich bin alleine. Und voller Matsch. Aber ich lebe, daher wird Mama sicherlich nicht lange schimpfen.
Vielleicht ist es nur ein Tier gewesen. Aus den neuesten Berichten der Wissenschaftler weiß ich, dass unsere Feinde hundeartige Bestien einsetzen, die ein gestreiftes Fell wie Tiger haben. Aber ein Tigerhund hätte sich auf mich gestürzt und wäre nicht weggerannt.
Ich habe Glück. Vielleicht hat es wirklich keine Spähposten gegeben. Oder ich konnte sie abhängen. Mit neuem Mut nehme ich die Richtung auf, die mir die Koordinaten vorgeben. Hoffentlich verlaufe ich mich nicht.
Das Wrack der Steinrakete kann nicht weit sein. Von den Außerirdischen, die hier einst gelandet sind, sind nur die sprechenden Steine geblieben. Und die verstreuten, versteckten Reste ihrer Raumschiffe. Unsere Feinde ahnen nicht, was hier in diesem Wald verborgen liegt. Und ich kann es vor ihnen finden.
Ich erreiche ein altes Flussbett. Durch den zurückliegenden Regenschauer haben sich Pfützen und Schlamm in ihm gebildet. Ich muss springen. Es ist nicht breit, aber ich will nicht abrutschen und hineinfallen. Zumal der Schlamm nicht das sein könnte, was er vorgibt. Ich könnte in ihm versinken.
Mit einem beherzten Sprung schaffe ich es auf die andere Seite, doch mein linker Fuß findet keinen Halt. Mein Stock rettet mich. Ich kann mich fangen und klettere die Böschung nach oben.
Meine Armbanduhr, die auch ein Kompass und mit dem Hauptcomputer verbunden ist, weist mir den Weg. Ich tauche unter Büschen und Ästen hindurch, und plötzlich stehe ich vor einem Stein. Er ist groß und schwer und sehr alt. Ich halte meine Uhr über ihn. Er stammt von dem Wrack!
Und dann sehe ich zwischen den Bäumen etwas, das wie eine Mauer aussieht. Aber es ist keine Mauer, es ist das Wrack. Ein künstlicher Steinring, verborgen im Wald. Vielleicht ist es nur der Antrieb der Felsenrakete. Aber vielleicht stimmen die Gerüchte und es handelt sich um die abgesprengte Kommandoebene.
Das Wrack liegt auf einem Hügel. Ich schleiche näher – und höre Stimmen. Erschrocken verstecke ich mich zwischen den Büschen. Sollte ich zu spät sein? Haben unsere Feinde eine Forschungsmission ausgeschickt, die schneller war? Ich unterscheide mehrere Stimmen, mindestens drei. Ich bin ihnen unterlegen, doch nicht bereit, schon aufzugeben.
Geduckt klettere ich den Hügel hinauf und hocke mich hinter die Steine. Durch eine Lücke kann ich hineinblicken. Ich schaue in ein gemauertes Rund, ahne, wo die Fenster waren, und entdecke eine niedrige Treppe. Ohne Zweifel eine höhere Ebene der Steinrakete! Hier könnte ich die Antworten auf die Fragen der Wissenschaftler finden – wäre ich alleine.
Ich sehe drei Gestalten. Sie gehören nicht zu unseren Feinden. Es sind Wilde. Bärtige Männer in stinkenden Mänteln. Sie trinken Gift aus Weinflaschen und unterhalten sich laut.
Ich bin ratlos und schaue auf meine Uhr. Die Zeit für meinen Auftrag läuft, ich muss rechtzeitig zurück sein. Vielleicht kann ich die Wilden verscheuchen.
»Hey, da ist doch jemand!«, ruft eine Stimme in meine Gedanken herein.
»Zeig dich! Komm doch her!«, rufen andere Stimmen.
Die Wilden haben mich entdeckt. Ohne mich umzuschauen, laufe ich davon. Auf meiner Flucht fällt mir mein Stock aus der Hand, aber ich kann nicht stehenbleiben. Vielleicht verfolgen die Wilden mich. Ich habe zu viel Angst, um über die Schulter zu blicken. Ich renne immer weiter in den Wald hinein, fort von dem Steinwrack, fort von den Wilden.
Schließlich bleibe ich mit zitternden Beinen stehen. Vorsichtig schaue ich zurück. Mir folgt niemand. Vermutlich war ich den Wilden zu schnell.
Doch was nun? Die Mission abbrechen und den ganzen gefährlichen Weg mit leeren Händen zurück? Ich blicke wieder auf die Uhr. Noch habe ich Zeit. Ich könnte mich im Wald verstecken, warten, bis die Wilden weg sind, und dann zum Wrack zurückkehren. Lange kann ich nicht warten, aber ich will es versuchen.
Ziellos wandere ich durch den Wald und denke über einen Plan nach, wie ich die Wilden doch noch vertreiben kann. Ich müsste sie erschrecken, damit sie davonrennen. Doch wovor haben Wilde Angst? Sie sind schrecklicher als vieles andere. Vielleicht vor Gewitter, wie Hunde. Oder vor Monstern. Vor Monstern hat jeder Angst.
Ein Geräusch schreckt mich auf. Ich bleibe ganz still stehen. Neben mir bewegt sich etwas durch die Büsche. Blätter gleiten zur Seite und ich sehe Fell. Es ist ganz nah. Ich halte die Luft an.
Aus den Büschen schreitet ein junges Reh. Es betrachtet mich mit scheuen Augen. Ich mache nichts.
Das Reh legt den Kopf schief, senkt ihn und fängt an zu fressen. Ich höre deutlich, wie sein Maul das Gras rupft. Ich kann es atmen hören. Etwas in mir glaubt, das Tier zu kennen. Als wären wir alte Vertraute, die sich bislang nicht begegnet sind. Ich spüre in mir einen Verlust, den ich noch nicht kenne.
Das Reh schaut auf. Seine Augen bitten mich zu gehen. Ich schüttele den Kopf und setze mich auf den Boden. Ich beobachte, und das Reh lässt es zu.
So sitze ich lange da. Auch ohne auf meine Uhr zu schauen, weiß ich, dass ich gehen muss. Ich bleibe noch etwas länger sitzen, dann stehe ich auf. Es ist, als würden wir uns zum Abschied zunicken, als wir gehen, das Reh in die eine Richtung, ich in die andere.
Einmal noch sehe ich mich um. Das Reh ist längst fort. Die tief stehende Sonne fällt in schwachen Streifen durch das Blätterdach. An einer Stelle, dort, wo wir uns begegnet sind, sehen die Lichtflecken auf dem Boden aus wie eine leuchtende Hufspur. Sie führt tiefer in den Wald hinein.
Die Zeit ist verstrichen, der Wald entlässt mich. Ich sitze immer noch da, zwischen all den Möglichkeiten, die sich bieten, aber sie spielen keine Rolle mehr.
Morgen werde ich im Wald spazieren gehen. Es wird ein anderer, ein fremder Wald sein. In ihm werden Geheimnisse warten, die ich noch nicht kenne. ◆