EIN KLEINES MÄRCHEN ÜBER DIE LIEBE
von Michael Masberg
Eine Erzählung.
Natürlich kannte ich die Geschichte um die versteinerte Prinzessin. Ein jedes Kind in unserem Reich wächst damit auf und Euch wird sie ebenfalls nicht unbekannt sein, auch wenn Ihr sicher eine andere Variante der Erzählung kennt als ich. Ich kenne jedoch das, was danach geschah, dieses kleine Märchen über die Liebe, das bewegend und grausam zugleich ist. Sicher habt Ihr schon die Gerüchte gehört, die sich um das ranken, was im Alten Garten geschah. Doch ich war dabei und kann sie Euch aus erster Hand wiedergeben. Dabei kommt mir keine bedeutende Rolle zu. Ich war eher ein zufälliger Beobachter, ein Chronist, den die Ereignisse für sich erwählten.
Doch bevor ich mit den Erlebnissen des jungen Mannes anfange, um den sich alles dreht, möchte ich Euch die Geschichte der Prinzessin in Erinnerung rufen. Ich möchte sie nicht so erzählen, wie es vielleicht Eure Mutter an Eurem Bett getan hat, sondern so, wie sie sich wirklich zugetragen hat. Denn ich kenne sie von dem Gärtner des Schlosses, in dem alles seinen Anfang nahm, und er ist der letzte, der die Wahrheit kennt. Diese gab er an mich weiter und ich gebe sie nun an Euch weiter.
Es trug sich nicht “vor langer Zeit” zu, auch nicht “vor vielen Generationen”, vielleicht aber “als dein Großvater noch ein kleiner Junge war”. Ganz genau war es vor einhundertdreiundzwanzig Jahren. Damals herrschte ein anderer Herr über dieses Land und er war ein gütiger König. Ja, ein wirklicher König, der letzte seiner Linie, und er lebte in dem Schloss, das Euch wohlbekannt ist. Seine früh verstorbene Gemahlin hatte ihm ein Kind geschenkt, eine liebliche Tochter. Als sie heranwuchs, brachten ihre Anmut und ihr Wesen die Herzen der Männer zum Klingen. Unter denen, die ihr Herz an sie verloren, war ein Zauberer. Ihr runzelt die Stirn bei diesem Wort? Sie mögen damals schon ein seltener Anblick gewesen sein und heute trifft man sie noch seltener, doch es gab sie – und gibt sie! – wirklich. Nach allem, was ich erlebt habe, habe ich keinen Grund, an der Wahrheit zu zweifeln, die der alte Gärtner mir und dem jungen Mann erzählte, um den es eigentlich geht.
Dieser Zauberer verzehrte sich stärker als alle anderen nach der Prinzessin, doch sie wies seine Liebe zurück. Die Märchen unserer Kindheit nennen viele Gründe für diese Zurückweisung, doch worin ihr wirklicher Grund lag, konnte mir auch der Gärtner nicht erzählen. Doch einen Grund musste es gegeben haben, war ihre Liebe doch allumfassend und sagte man ihr ein gewinnendes Wesen nach. Vielleicht war es bloß eine Ahnung dessen, was kommen würde, die sie zurückschrecken ließ. Sehr gut kennen wir aber die Leiden des Zauberers, die jeder beschreiben kann, der einmal unglücklich verliebt gewesen ist. Jedes Lachen von ihr war ihm ein Stich in das Herz und bei jedem Gedanken an sie verkrampften sich seine Eingeweide. So sehr sehnte er sich nach einem Kuss ihrer Lippen, doch diese flüchtige Gunst wollte sie ihm nicht gewähren. Es wäre ein Versprechen gewesen, dass sie nicht geben wollte. Je mehr er sich nach ihr verzehrte, je mehr er sie vorsichtig umgarnte und jede kleine Geste von ihr vorsichtig in seinem Herzen trug wie einen zerbrechlichen Schatz, desto mehr zog sie sich zurück und wich ihm aus. Manche können diesen Kummer irgendwann überwinden und sich einer anderen Begierde zuwenden, doch nicht er. Seine brennende Leidenschaft wurde zur schneidend kalten Wut.
Er sprach einen schrecklichen Fluch über sie: »Soll ich dir nicht gehören, soll es keiner. Mit diesen Worten banne ich dein Leben in Stein und einzig meine Tränen sollen dich erlösen. Doch hoffe nicht, denn um dich habe ich bereits alle Tränen vergossen!«
Und kaum hatte er seine grausamen Worte gesprochen, erstarrte die Maid im Garten ihres Vaters, wo der Zauberer ihr aufgelauert hatte. Ihr letzter Laut erstarb in einem Knirschen, wie es zwei Steine machen, die man gegeneinander reibt. Nur eine Person konnte die Worte dieses Fluchs bezeugen, neben dem, der sie sprach, und der, die sie trafen. Es war der damalige Gärtner des alten Königs und er gab sie getreulich weiter an seinen Herrn.
Der König litt sehr unter dem Schicksal seiner Tochter und er sprach eine große Belohnung für den aus, der sie erlöste. Doch die vielen mutigen Männer, die aufbrachen, den Fluch zu brechen, brauchten oft keine Belohnung, denn sie dauerte das Schicksal der schönen Maid so sehr, dass sie von selbst auszogen. Wer mag sie nicht verstehen, der einmal die Statue der Prinzessin im Alten Garten des Schlosses sah und sich vielleicht an das Märchen aus Kindestagen erinnerte? Vielleicht habt Ihr selbst sie schon einmal betrachtet und Euch nicht bloß gefragt, welch vergessener Künstler dieses Meisterwerk geschaffen hat, sondern geträumt, der Ritter zu sein, der die Schönheit aus dem Stein befreit. Ich selbst tat es früher oft genug.
Eine Träne nur des Zauberers musste genügen, um dem erstarrten Leib das Leben zurückzugeben. Doch niemandem gelang es, das grausame Schicksal der Prinzessin zu beenden. Viele derer, die ausgezogen waren, starben auf dem Weg oder es verließ sie unterwegs der Mut, denn der Zauberer hatte sich in den finstersten Winkel der Welt zurückgezogen. Viele namenlose Gefahren lauerten auf den Helden, der die Herausforderung wagte. Und selbst die wenigen, die ihr Ziel erreichten – so sie es wirklich geschafft hatten und es nicht nur vorgaben –, kehrten mit leeren Händen zurück. Die verbitterten Augen des Zauberers wollten nicht weinen.
Die Zeit ging in das Land. Der König starb voller Gram und seinen letzten Wunsch, die geliebte Tochter noch einmal lachen zu hören, nahm er mit auf die Reise in das schweigende Nichts. Schließlich brach niemand mehr auf, die Frau aus Stein zu befreien. Ihre Geschichte geriet zwar nie wirklich in Vergessenheit, doch die Wahrheit verbarg sich immer tiefer hinter den Schleiern, die andere mit ihren Erzählungen um sie woben. Mal wurde der Zauberer zu einem Drachen, mal zu einem Teufel. Hier war der Fluch die göttliche Strafe für eine uneinsichtige Sünderin, dort der Streich einer Fee. Oder habt Ihr nicht auch schon eine ganz ähnliche Erzählung gehört, die in “einem Land, fern von hier” stattfand? Es ist nichts Schlimmes daran, sich in diesen Schleiern zu verfangen und sich von ihnen verführen zu lassen, doch wenn man Schleier für Schleier entfernt, steht man vor der Wahrheit und damit im Garten unseres Schlosses.
Ich war nie ein großer Mann, am wenigsten in meiner Erscheinung, aber auch nicht in meiner Bedeutung. Ich will Euch nicht mit Einzelheiten zu meinem Leben langweilen, denn – wie schon oft erwähnt – erzähle ich Euch nicht von mir. Doch meine Aufrichtigkeit verpflichtet mich, Euch zu berichten, wie ich an die Wahrheit gelangte. Ihr kennt den Herrn, der jetzt in dem Schloss wohnt, also spare ich mir die Worte, ihn zu beschreiben. Es mag Euch genügen, dass das meiste, was man sich über ihn sagt, zutreffend ist. Bei ihm fand ich eine Anstellung. Ohne diese Gnade hätte ich nicht nur nichts zu beißen gehabt, sondern jetzt auch nichts zu erzählen. Ich erledigte vielgestaltige Arbeiten gewöhnlicher Natur, wobei mir die niedrigsten Verrichtungen erspart blieben. Einen Teil dieser Arbeiten verrichtete ich im Alten Garten, der – wie bekannt – dem Volk unserer Stadt zu den gegebenen Stunden frei zugänglich ist. Ich war dort seit meiner Kindheit nicht mehr gewesen und es überraschte mich, die Statue der Prinzessin wiederzusehen. Ich erinnerte mich an die alten Geschichten, die mir mein Vater mit seiner brummenden Stimme vorgetragen hatte, und ein wenig gestattete ich mir zu träumen. Ich bin kein großer Träumer, denn große Träume gebühren großen Menschen. Doch manchmal lasse ich mich hinreißen. So auch an meinem ersten Tag im Schloss, bald aber ließ das Träumen nach. Die Statue der Prinzessin wurde für mich wieder das, was sie augenscheinlich war: die Statue einer Prinzessin. Schön anzusehen, ohne dass ich mit meinem fehlenden Verstand für die Kunst hätte sagen können, was das Schöne war.
In diesen Tagen, da die Arbeit und die neuen Bekanntschaften, die ich unter den anderen Bediensteten machte, mich erfüllten, lernte ich den Alten kennen. Damit meine ich den Gärtner, doch am Schloss nannten ihn alle nur “den Alten”. Er war länger da als irgend jemand anderes, sogar länger als der Herr des Schlosses, der ihn von seinem Vorgänger übernommen hatte. Niemand kannte sein Alter – dem Äußeren nach schien es mir zwischen siebzig und einhundertfünfzig zu liegen –, ebenso wenig seinen Namen. Er war einfach da, so wie die Statue im Alten Garten, und man war so an ihn gewöhnt, dass man vergaß, ihn mir vorzustellen. Diese Nachlässigkeit bemerkte ich selbst erst später, denn es dauerte einige Tage, bis er mir überhaupt auffiel. Ihr kennt diesen Moment: Man geht Tag für Tag den selben Weg, sieht jeden Tag dasselbe Zimmer, bis einem plötzlich ein Detail auffällt, das man vorher nicht wahrgenommen hat. Es stellt den eigenen Verstand infrage. Das erlebte ich, als ich das erste mal den Gärtner sah. Ich putzte gerade mit einem anderen Diener, der versprach, mir so etwas wie ein Freund zu werden, die Fenster, als ich zufällig in den Garten sah und die weißhaarige, gebeugte Erscheinung ausmachte, die durch die Beete schlurfte.
»Wer ist das?« fragte ich den Mann, der mein Freund hätte werden können.
»Wen meinst du?«
»Siehst du ihn nicht?« fragte ich überrascht. »Dort im Garten, zwischen den Beeten!« Mir war, als sähe ich als einziger ein Gespenst.
Der andere streckte den Hals, dann lachte er, wohl auch wegen meines überraschten Gesichtsausdrucks. »Beruhige dich, Freund. Das ist nur der Alte, der pflegt die Blumen.«
Ich war irritiert, gab es doch genug Menschen am Schloss, die sich darum kümmerten, und ich hatte gedacht, jeden einzelnen davon zu kennen. Als ich meinen möglichen Freund darauf ansprach, zuckte er mit den Schultern und sagte: »Man vergisst ihn leicht.« Er schien auch gleich darauf seine Worte in die Tat umzusetzen, doch mich ließ der Gedanke an den alten Gärtner nicht mehr los.
Es mag Euch vielleicht irritieren, dass ich von meinem “möglichen Freund” spreche, von einem anderen, der ”mein Freund hätte werden können”. Das liegt daran, dass ich ihn nicht anders zu bezeichnen weiß. Er war ein Diener, aber nicht irgendeiner, denn wir verstanden uns gut. Doch das Schicksal gab mir nicht die Zeit, die Bekanntschaft zu vertiefen. Ich bin mir sicher, unter anderen Umständen wären wir wirklich Freunde geworden. Da das aber nicht geschah, vermag ich auch nicht zu sagen, ob ich seine Bekanntschaft vermisse. Es ist nicht geschehen.
Seltsam, mit welchen Gedankenspielen man sich beschäftigen kann, nicht wahr? Aber glaubt nicht, dass ich abschweife. Ich trete nur etwas beiseite und betrachte den Kern der Geschichte von diesem Standpunkt aus. Sicher werdet Ihr später verstehen und mir beipflichten.
Ich begann, den alten Gärtner zu beobachten. Seine Erscheinung faszinierte mich, doch ich wollte erst mehr über ihn wissen, bevor ich mit ihm sprach. An seinem Tagesablauf war nichts Besonderes. Er stand früh auf, auch wenn ihn niemand dazu zu zwingen schien. Vielleicht war es die Gewohnheit. Er bewohnte eine kleine Kammer in einem Teil des Schlosses, der nahe des Alten Gartens lag und schon lange nicht mehr benutzt wurde. In einigen Sälen fanden manchmal Ausstellungen oder andere kulturelle Ereignisse statt, doch ansonsten war das Leben aus den Gängen und Räumen gewichen – bis auf den alten Gärtner. Niemand konnte mir etwas über ihn erzählen, denn es sprach kaum einer mit ihm. Mancher wurde sich dessen erst bewusst, als ich ihn zu dem Gärtner fragte, und war kurz peinlich berührt. Doch kaum hatte er sich seiner Tätigkeit zugewandt, schien er den Alten schon wieder vergessen zu haben.
Es lag sicher nicht an der Erscheinung des Alten, das niemand mit ihm sprach. Seine Erscheinung war gepflegt. Das Gesicht des Männleins war von unzähligen tiefen Furchen durchzogen, doch dabei waren die Augen eigentümlich jung geblieben. Der Alte strahlte eine ruhige Freundlichkeit aus und eine solche Ruhe, dass er verschwand, wenn man sich nicht auf ihn konzentrierte. Das war der Grund, warum kaum einer mit ihm sprach, denn keiner kam auf den Gedanken und von sich aus drängte der Alte einem kein Gespräch auf.
Das stimmt nicht ganz, will ich ehrlich zugeben, Ihr werdet es später noch sehen. Zum Zeitpunkt meiner Beobachtung war dies aber der Eindruck, den ich von diesem zarten Männlein gewonnen hatte.
Es ist seltsam, er wirkte so alt, uralt, aber nicht gebrechlich. Sein stilles Wesen gab ihm eine eigentümliche Stärke, die das Gefühl vermittelte, er könnte alle Zeiten überstehen und würde am letzten aller Tage noch die Beete im Alten Garten pflegen.
In diese Zeit, in der alles möglich gewesen wäre, fiel der Besuch des jungen Mannes, um den es eigentlich geht. Ich nennen ihn “den jungen Mann”, weil er mir so erschien, aber ich muss ehrlich zugeben, dass ich mich damit irren kann. Er war so jung, wie der Gärtner alt war. Er hatte etwas von einem vagabundierenden Reisenden an sich, eine dieser ruhelosen Gestalten, die es in den letzten Jahren hinaus aus den Städten auf die Straßen zog. Ich bin nie so einer gewesen. Der Fremde, der zuerst nur einer von vielen Besuchern war und dadurch nicht weiter auffiel, trug einen grünen Reisemantel über einen etwas abgetragenen Anzug. Der rasierte Schädel war von Narben überzogen und seine Hände steckten in speckigen Lederhandschuhen. So jung wie er schien, so alt waren seine Augen.
Mir fiel er erst auf, als der Garten geschlossen wurde und man die Besucher nach draußen bat. Er stand vor der Statue der Prinzessin und studierte ihr Gesicht. Normalerweise hätte er wie jeder andere gehen müssen, doch er blieb. Ich weiß nicht, wie er das geschafft hatte. So großzügig wie der Schlossherr ist, so entschieden lässt er die Parkruhe durchsetzen. Der Fremde aber durfte bleiben. Die Wachen, die ihn hatten vor die Tür setzen sollen, sprachen nicht darüber. Der junge Mann wurde geduldet, und so verbrachte er die Tage und Nächste im Garten. Er verlor sich vollständig in dem Anblick der versteinerten Prinzessin und wir konnten nur raten, was ihn dabei bewegte. Ich weiß es mittlerweile, doch es ist noch nicht an der Zeit, Euch einzuweihen. Es genügt zu wissen, dass er glücklich wirkte.
Nachdem ich eine Wette mit meinem möglichen Freund verloren hatte, fand ich mich drei Tage später in der Situation wieder, den Fremden anzusprechen. Ich kann viel reden, wie Ihr sicherlich schon bemerkt habt, aber ich bin kein Mensch, der offen auf Fremde zugeht. Also schlich ich durch den Garten, umkreiste die Statue und den Mann und legte mir zurecht, wie ich ihn ansprechen sollte.
Ich war fast soweit, da kam mir der Alte zuvor. Über den geheimnisvollen Gast hatte ich den Gärtner völlig vergessen und war geradezu erschrocken, ihn plötzlich neben dem Fremden stehen zu sehen. »Kennt du die Geschichte der Prinzessin aus Stein, junger Freund?«, fragte das Männlein den Mann.
Dem Fremden war deutlich anzusehen, dass er die Geschichte erst nicht hören wollte. Denn in den zurückliegenden Tagen und Nächten hatte er sich seine eigene Erzählung ausgemalt. Dann siegte jedoch seine Neugier, und er forderte den Alten auf, sie zu erzählen. So erfuhr er die Wahrheit, und mit ihm ich, der als zufälliger Zuhörer dabei war.
Lange bevor der Alte seine Geschichte beendet hatte, hatte der Mann sich wieder in den Anblick der Statue vertieft. Seine alten Augen bekamen einen eigentümlichen Glanz und seine Lippen umspielte ein Lächeln, das nur die Menschen haben, die glauben, die Welt besser zu kennen als sie sich selbst. »Nun«, sagte er. »Dann will ich mich auf den Weg machen, die Tränen des Zauberers zu holen. Und du wirst mich begleiten.«
Der Alte erschrak darüber und stammelte, dass er sich ohne Frage geehrt fühle, doch sein Körper zu alt für Abenteuer sei, die er in seiner Jugend verpasst hatte. Der Mann ließ ihn ausreden und erklärte, dass er gar nicht den Alten meine, sondern mich. Jetzt war ich erschrocken.
»Du bist bereits Teil der Geschichte, es wäre unangemessen, dich auszulassen. Außerdem braucht jede Geschichte jemanden, der sie erzählt, und in diesem Fall kann ich das nicht sein.«
So kam es, dass ich mich an der Seite des Mannes auf die Reise begab, um den Zauberer zu finden, seine Tränen zu gewinnen und die Prinzessin zu erlösen. Fragt mich nicht, wie der Mann es schaffte, aber ich wurde für die Dauer des Abenteuers von meinen Diensten im Schloss freigestellt. Es ließe sich viel über unsere Abenteuer auf der Reise zum Rand der Welt erzählen, die letztlich seine Abenteuer waren. Lehrhafte Beispiele über List und Mut, etwa, wie er den grünen Wyrm von Anderun bezwang. Oder wie er den wahnsinnigen Vogelschwestern auf der Höhe des Kreischenden Gipfels entkam. Auch die Reise durch den Wald der Vergessenen Schatten und über die Sternengoldfelder wäre eine Erzählung wert. Doch sind dies andere Geschichten. Meine Rolle bei diesen Abenteuern werde ich erfüllen, wenn ich Euch eines Tages davon erzähle.
Schließlich erreichten wir den finstersten Winkel der Welt, der so düster war, wie nur ein verschmähtes Herz es sein kann. Hier hockte der Zauberer auf einem Thron aus Spiegelscherben und starrte in die Finsternis. Er war unnatürlich lange am Leben geblieben, da in ihm kein heißes Feuer mehr brannte, das ihr verzehrte. So lange war niemand mehr bei ihm gewesen, dass er uns zuerst für eine Sinnestäuschung hielt. Doch der junge Mann war hartnäckig und erklärte sein Vorhaben, die Tränen des Zauberers zu gewinnen. Dieser antwortete ihm mit einem heiseren Lachen. »Niemand hat es vermocht, so wird es auch dir nicht gelingen. Es ist vergeudete Zeit, deinen Bemühungen zuzusehen, doch du bist hier und ich will dir deine Gelegenheit geben. Die Abwechslung ist mir willkommen.«
Da nickte der Mann. Die ganze Reise über hatte ich mich gefragt, wie er an die Tränen des Zauberers kommen wollte, und hatte mir darüber die abenteuerlichsten Bilder ausgemalt. Ich war überrascht und ein wenig enttäuscht, als er sich zu den Füßen des Zauberers niederließ und zu erzählen anfing. Er erzählte von seiner Liebe zu der Prinzessin aus Stein, von seiner Zeit im Alten Garten, während der er sich vollständig in ihrem Anblick verloren hatte. Er beschrieb seine nächtlichen Träume, in denen die Schöne ihrem Gefängnis entstieg. Er hatte ihr einen Namen und eine Geschichte gegeben, kannte jedes Detail ihres starren Gesichtes, und manches Mal hatte er im Schlaf ihre schmale Hand in seiner gefühlt. Nach solchen Nächten war er mit der Sicherheit aufgewacht, sie sei am Leben und an seiner Seite. In Worten, die ich nicht wiedergeben kann, beschrieb er, was er für sie empfand und sich nie erfüllen würde, da sie auf ewig für ihn unerreichbar blieb.
Als er geendet hatte, liefen dem Zauberer die Tränen in Strömen über die rissigen Wangen. Der junge Mann stand auf, fühlte eine Glasphiole mit dem salzigen Gut und machte sich auf den Heimweg. »Habt Dank«, waren seine letzten Worte, dann ließ er den schluchzenden Zauberer in der Dunkelheit zurück. Ich folgte ihm mit einem eigentümlichen Gefühl, das mir das Herz gleichermaßen schwer wie leicht machte.
Wieder waren wir auf Wochen unterwegs, bis wir zum Schloss zurückkehrten. Ohne zu zögern ging der Mann, der mir trotz aller Abenteuer fremd geblieben war und dessen Namen ich nie erfuhr, zu der versteinerten Prinzessin im Garten. Er stellte sich vor die Statue, nahm die Phiole mit den Tränen – und zögerte. Lange verharrte er so, dann ließ er sich in das Gras nieder. Unablässig betrachtete er die Prinzessin aus Stein und drehte dabei die Glasphiole zwischen den Fingern. Ich wagte es nicht, ihn anzusprechen, blieb aber in seiner Nähe, da ich den Moment nicht verpassen wollte, in dem die Prinzessin nach über hundert Jahren aus ihrem verfluchten Schlaf erwachen würde. Ich bat andere Diener, uns zu essen und zu trinken zu bringen. Der Mann rührte nichts davon an.
Nach drei Tagen und drei Nächten stand er auf, öffnete das Fläschchen und goss die Tränen in ein nahes Blumenbeet. Dann atmete er auf und lächelte zufrieden.
Vor Entsetzen verschlug es mir die Sprache. Der alte Gärtner, der alles beobachtet hatte, kam heran und fragte verwirrt, warum der Mann die Tränen vergossen hatte, anstatt die Prinzessin zu erlösen.
Der junge Mann drehte sich zu ihm um. »Es gibt keine reinere Liebe als die unerreichte«, sagte er und ging auf immer von dannen. ♦
Ein kleines Märchen über die Liebe wurde das erste Mal am 12. März 2008 auf meinem damaligen Blog veröffentlicht. Fünf Jahre später kehrte ich zu der Erzählung zurück, nahm jedoch nur kleinere Korrekturen vor. Bis ich mich 2014 abermals der Geschichte annahm, dieses Mal jedoch mit umfangreicheren Änderungen. Es mag sein, dass dies nicht meine letzte Auseinandersetzung mit dem kleinen Märchen über die Liebe bleibt.