MASCHINENTRAUM

von Michael Masberg


L träumte davon, eine Maschine zu sein.
Dieser Traum beschäftigte ihn, seit er als Kind die versteckte Sammlung Science Fiction-Comics seines Bruders entdeckt hatte. Heft für Heft hatte er in seinem Versteck auf dem Dachboden gelesen, die Farben erleuchtet von dem Licht seiner Taschenlampe.
Seine Eltern hätten es ihm nicht erlaubt, aus den gleichen Gründen, wie sie es seinem fünf Jahre älteren Bruder nicht erlaubt hätten. Sein Bruder hätte es ihm nicht erlaubt, weil er nicht wollte, das Kinderfinger seinen heiligen Schatz entweihten.
Natürlich kamen alle L auf die Schliche. Zuerst sein Bruder, der ihm Prügel verpasste, dann seine Eltern, die herausfanden, was die Ursache für den Streit ihrer Kinder gewesen war. Der Vater verbrannte daraufhin die gesamte Sammlung bunter Hefte.
Dies entzweite L und seinen Bruder mehr voneinander, als sich jemals zuvor ein Bruder von seinem Bruder abgewandt hatte.
Doch L hatte Glück. Er lebte in einer Zeit, in der die Gegenwart die Zukunft überholte. Das Vorstellbare wurde zum Möglichen.
Das frühe Verscheiden seiner vermögenden Eltern sowie seines in jungen Jahren durch waghalsige Spekulationen reich gewordenen Bruders verschaffte L ein ansehnliches Erbe. Und so wurde das Mögliche für ihn wirklich.
L überstürzte nichts. Er wollte die Erfüllung seines über dreißig Jahre gehegten Wunsches genießen.
Er begann mit den Beinen, zuerst das linke, dann das rechte. Und er konnte mit ihnen rennen, wie er noch nie zuvor gerannt ist, ohne dass sie ermüdeten. Ganz im Gegenteil zu seiner Lunge, die mit seinen ruhelosen Maschinenbeinen nicht mithalten konnte. Kurz darauf atmeten ausgeklügelte Pumpensysteme für ihn. Das zusätzliche Kiemenmodul gönnte er sich, weil es ein Schnäppchen war.
Vermutlich fing es da an, aus dem Ruder zu laufen.
Denn die Arme wollten mit den Beinen mithalten, und bald hoben, stemmten, zerrten, bogen und hielten Zahnräder, Drähte, Schläuche und Metalle, was vorher Gelenke, Sehnen, Adern und Knochen unzuverlässig zu leisten versuchten.
Die alten Verdauungssysteme, die L schon so lange plagten, wichen hygienischen und leicht zu reinigen Implantaten, die bald zu Zierwerk wurden, denn so wie der Hunger nachließ, wurden Essen und Trinken zu einem Ritual, das sich irgendwann selbst erübrigte.
Dennoch durften eine neue Zunge und eine neue Nase nicht fehlen, die Zuordnung der neu entdeckten Geschmäcker und Gerüche übernahm ein leistungsfähiger Chip. L ließ sich von den neuen Sinneseindrücken mitreißen, auch Ohren und Augen wurden entsorgt und doch Wundermaschinen ersetzt, und die Gewalt der neu erschlossenen Sinnesspektren sorgte dafür, dass L in ein taumelndes, berauschendes, fünf Wochen andauerndes Koma fiel.
Sein Gehirn konnte all dies nicht mehr verarbeiten, doch L hatte vorgesorgt. Der von ihm vorher unterzeichneten Verfügung folgend, wurden alle Verantwortungen des Gehirnes den modernsten Chips überschrieben. Und da die Technik mittlerweile so klein, sein Schädel so groß und L so reich war, zog in seinen Kopf das leistungsfähigste Netzwerk der Welt ein.
Die weitere Entwicklung war folgerichtig. Sein neues System analysierte die zu beanstandenden, langfristig versagenden und schlussendlich verrottenden Biokomponenten, stieß sie ab und ließ sie austauschen. Der Widerspruch wurde aufgelöst. Stück für Stück wuchs das System um Elemente, die kompatibler und verlässlicher waren als ihre Vorgänger.
Als der Prozess abgeschlossen war, hatte sich der Traum erfüllt. Die Maschine besah sich und war zufrieden.
Und sie träumte davon, L zu sein. ◆


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