Eigentlich muss ich mich nicht motivieren, am kommenden Sonntag zur Wahl zu gehen. Nicht zu wählen, das ist keine Option. Sich aus welchen vorgeschobenen Gründen auch immer von der Wahl fernzuhalten, schwächt nur die Demokratie und ist keinesfalls der Denkzettel, den man vielleicht irgendwem verpassen möchte. Und sich später zwar über die Zustände echauffieren, dabei aber seine Hände in Unschuld zu waschen – man war ja nicht wählen, trägt daher auch keine Verantwortung –, ist mehr als billig.

Doch Wahlen werden schwieriger, schon alleine dadurch, dass die Parteien sich immer ähnlicher werden. Bei den großen Parteien der diffusen Mitte geht es letztlich nur noch um Nuancen. Aber da liegt nicht einmal mein ganz persönliches Problem.

Diese Wahl wird für mich anders. Im Grunde meines Herzens bin ich nicht nur Demokrat, sondern eigentlich Sozialdemokrat, doch die alte Tante mag ich nicht mehr besuchen. Und das nicht nur, weil es bei ihr ein wenig muffig riecht.

“Ich warte vor der Tür.”

Meine typische Ruhrgebietsparteiengeschichte führte mich als Spross einer Bergbau- und Arbeiterdynastie an den Rocksaum der alten Tante. Auch wenn ich älter wurde und mir ihre Schrulligkeiten immer deutlicher auffielen, blieb ich ihr verbunden. Gerade siechende Familienmitglieder soll man nicht im Stich lassen. Jetzt dürfen sich jedoch andere um sie kümmern. Bereits vor einigen Wochen habe ich dem Tantchen einen langen Brief geschrieben und ihr erklärt, dass ich nicht mehr zu ihr auf Kaffee und Kuchen vorbeikomme. Jetzt scheint sie akzeptiert zu haben, dass sie mich ziehen lassen muss.

Der lange Brief lässt sich in drei Punkten zusammenfassen:

  1. Ich will keinen Peer Steinbrück als Kanzler. Ich wil auch keine Angela Merkel als Kanzlerin. Aber ich will nicht bloß diesen Mann wählen (den ich schon mal als Ministerpräsident erleben durfte), weil er mir von der Partei vorgesetzt und mir als kleineres von zwei Übeln verkauft wird. Wobei letzteres nicht einmal sicher ist.
  2. Sehr entscheidend ist für mich die Kulturpolitik. Sozialdemokratie und intelligente Kulturpolitik gehen leider nicht zusammen. Man muss sich nur mal den Kurzüngswahnsinn des Landes NRW und der hiesigen Städte und Kommunen ansehen. Was sich nicht kulturtouristisch ausschlachten lässt, verliert zunehmend seine Existenzberechtigung.
  3. Die Reaktion der Stadt Essen auf die Besetzung der Bärendelle. Gewaltbereite Polizeihundertschaften auf von Anwohner unterstützte, friedliche Besetzer mit einem soziokulturellen Anliegen loszulassen, ist weder sehr sozial noch sehr demokratisch.

“Komm doch bitte wieder rein, Freund Genosse!”

Aber die alte Tante ist hartnäckig, schickt elektronische wie gedruckte Briefchen im Dutzend und bittet schließlich einen anderen Neffen, doch einmal mit mir zu reden. Dieser andere Neffe ist natürlich entschieden anderer Meinung als ich, so entschieden, dass es nicht einmal eines Eingehens auf meine Gründe braucht: Da reicht es, das entsprechende Kapitel III.6 Kultur-, Medien- und Netzpolitik aus dem Parteiprogramm in eine Email zu kopieren. Klar, es die Bundestagswahl rückt immer näher, da entscheidet das ‘Wir’, nicht die individuellen Gründe eines Parteiaustritts. Immerhin nahm er sich die Zeit, noch den Satz

»Die SPD steht wie kaum eine andere Partei in Deutschland an der Seite der Künstlerinnen und Künstler.«

voranzustellen und die Einladung zur Abschiedstournee von Oliver Scheytt anzuhängen, dem wir glücklichen Künstler des Ruhrgebiets schließlich RUHR.2010 mizuverdanken haben.

“Danke, ich bleibe draußen!”

Ich will das alles gar nicht ausbreiten. Meine Antwort war recht bestimmt: Das Wahlprogramm habe ich gelesen, Worthülsen interessieren mich aber weniger als Taten, und was es diese betrifft, sieht es gerade recht mau aus. Zugegeben, ich konnte mir nicht verkneifen, noch einmal auf die Kulturkürzungen durch SPD-geführte Regierungen hinzuweisen, die ich fatalerweise selbst gewählt habe.

Die engagierte Antwort darauf lautete – vollständig zitiert – wie folgt:

»Ok. T«

[Nota bene: »T« ist keine Abkürzung für Tante. »T« ist keine von mir vorgenommene Abkürzung eines Vornamens, um die betreffende Person zu schützen, auch wenn es der Anfangsbuchstabe eines Vornamens ist. Es steht genauso in der Mail.]

Die alte Tante, die sich gerne so fürsorglich gibt, hat ihren unzufriedenen Neffen aufgegeben. Er macht ohnehin irgendetwas Seltsames mit Kunst, das die alte Tante nicht versteht. Ich will nicht nachtragend sein, aber würde ich meine Entscheidungen nach nostalgischen Gefühlen treffen, ich wäre wohl noch Kirchenmitglied, weil ich eine schöne Zeit in meiner damaligen katholischen Grundschule hatte.

Das beantwortet noch nicht die Frage, wo ich am kommenden Sonntag mein Kreuz machen, fügt den Stellen, wo ich es nicht machen werde (etwa: FDP, NPD, Partei bibeltreuer Christen, Piraten), eine weitere hinzu.