Meine Eltern wurden im Zweiten Weltkrieg geboren. Eine frühe Erinnerung meiner Mutter zeigt sie im Kinderwagen, mit dem ihre Mutter zum Luftschutzbunker eilt.
Als Kinder spielten meine Eltern in den Trümmerlandschaften der Nachkriegszeit. Sie erlebten die Entbehrungen ebenso wie den Aufschwung. Sie lernten etwas über Solidarität und gaben es an mich weiter.
Als sie in meinem Alter waren, war der Kalte Krieg heiß. Eine Welt in zwei Lagern, die sich gegenseitig mit der Auslöschung drohten.
Über meine Eltern kam ich als Heranwachsender zur Sozialdemokratie, von deren parteilichen Auswüchsen ich mich schon lange abgewandt habe. Aber die Idee dahinter brachten sie mir ebenso bei wie christliche Werte, auch wenn ich den Institutionen, die für diese Werte eintreten, wenig abgewinnen kann. Meine Mutter geht nur noch zu Beerdigungen in die Kirche. Ich halte es ähnlich, auch wenn bei mir ab und zu noch eine Hochzeit dazu kommt. Aber etwas ist hängengeblieben: Nächstenliebe.
Ich war ein Kind, als die Mauer fiel. Als der Gedanke nicht nur eines geeinten Deutschlands, das ich nur geteilt kannte, sondern auch die Idee eines geeinten Europas um sich griff. Meine Eltern haben geweint, als die Mauer fiel. Ich war sieben Jahre alt, ich konnte nur ahnen, aber nicht begreifen, was das Ende eines geteilten Europas und eines Scheinkrieges für sie bedeutet. Sie hatten ihr ganzes Leben in dieser Welt verbracht, die nun endete, um Platz für die Hoffnung auf ein Miteinander zu machen.
Meine Eltern lehrten mich Respekt, Solidarität und die Wichtigkeit, füreinander einzustehen. Sie lehrten mich, was politische und soziale Verantwortung bedeutet. Und sie lehrten mich, was Frieden bedeutet und das er keine Selbstverständlichkeit ist.
Das sind die Werte, mit denen ich aufgewachsen bin. Ich glaube an die Solidarität der Schwachen untereinander, ich glaube an die Verantwortung der Stärkeren gegenüber den Schwächeren. Und ich glaube an ein demokratisches Europa, das Grenzen einreißt und Differenzen überwindet, das Befindlichkeiten und Kleinstaaterei hintanstellt, um einer höheren Idee von Frieden und Gemeinschaftlichkeit zuzuarbeiten.
Dieser Glaube lässt mich an der Gegenwart verzweifeln. Eine Gegenwart, die die Lehren der Vergangenheit vergisst. In der die politisch Verantwortlichen ihre Verantwortung fallenlassen und fahrlässig Ressentiments gegen die Schwachen und Fremden schüren. In der Grenzen wieder aufgebaut werden, die ich in jüngeren Jahren meines Lebens habe fallen sehen. In der Sozialdemokraten das Soziale, Christdemokraten das Christliche und beide zusammen die Demokratie verraten und mit den Füßen treten. In der die Verantwortung nicht mehr der Gemeinschaft, sondern dem Einzelnen gilt.
Ist alles so lange her, dass wir es vergessen? Haben wir uns so sehr an Frieden und Wohlstand gewöhnt, dass wir sie leichtfertig aufs Spiel setzen – für was? Um uns über andere zu erheben? Um auf Kosten anderer recht zu behalten?
Meine Solidarität gilt den Menschen in Griechenland, die unter den Folgen von Entscheidungen leiden, die andere für sie getroffen haben und immer noch treffen, und die zu dem letzten vernünftigen Mittel greifen, das ihnen geblieben ist: ihre Stimme.
Ich versuche mir die Hoffnung zu bewahren, dass diese Stimme gehört wird. Dass die Großen Größe zeigen. Hört auf, beleidigt auf Standpunkten zu beharren, die in den letzten Jahren Leiden verschärft haben! Hört auf, Gräben aufzureißen, die unter großen Anstrengungen zugeschüttet wurden! Hört auf, Hass und Vorurteile zu schüren!
Erinnert euch, dass nur eine Gemeinschaft, die füreinander einsteht, die miteinander redet und die die eigenen Befindlichkeiten beiseite legen kann, den Frieden garantiert, in dem wir leben. Erinnert euch, dass der Erhalt dieses Friedens mit Anstrengungen verbunden ist und sein Ende uns alle betreffen wird.
Und hört auf, unsere Zukunft zu verspielen!