Warum ich den W100 nicht mag
Es gibt zahllose Rollenspiele und zahlreiche Rollenspielsysteme. Sie benutzen unterschiedliche Grundmechaniken: Mal ist es besser, wenn man hoch würfelt, mal ist es besser, wenn man niedrig würfelt, und dann wieder verwendet man ganze Würfelpools und versucht, eine bestimmte Augenzahl oder Paarung zu erzielen. Und sie benutzen die unterschiedlichsten Würfel: zwanzigseitige Würfel (W20), sechsseitige Würfel (W6), ganz abgefahrene Würfel (W7) – und den W100. Alle Spielenden haben ihre Vorlieben und Abneigungen. Ich mag besonders den W100 nicht. Das hat mit dem Würfel an sich zu tun, vor allem aber mit einer grundsätzlich falschen Annahme der Systeme, die ihn benutzen.
Nota bene: Ich will keine Person überzeugen, den W100 beiseite zu legen, wenn sie damit glücklich ist. Es gibt nicht „das richtige Spiel“. Alle sollen so spielen, wie es ihnen in ihrer Gruppe am meisten Freude bereitet. Da das Thema „W100“ in meinem Umfeld in jüngster Zeit jedoch häufiger aufkam, möchte ich darlegen, warum er keine Spieloption ist, die ich mag.
Ein Würfel mit 100 Seiten?
Es mag nicht-eingeweihte Lesende dieses Blogs geben, die sich nun einen Würfel mit 100 Seiten vorstellen. (Wenn sie nicht noch damit beschäftigt sind, sich einen Würfel mit sieben Seiten vorzustellen.) Diese gibt es in der Tat, doch aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass sie spätestens dann unhandlich werden, wenn der Spieltisch nur eine ganz leichte Neigung hat. In der Regel benutzt man zwei zehnseitige Würfel (W10), von denen einer die Zehnerstellen und der andere die Einerstellen darstellt. Genauso wie auf dem Bild zu diesem Artikel: Sie zeigen eine 16.
Meistens wird der W100 verwendet, um eine lineare Wahrscheinlichkeit von 1 bis (in der Regel) 100 abzubilden. Ich habe für etwas eine Chance von 35% auf Erfolg – wenn ich mit dem W100 35 oder niedriger würfelt, gelingt es mir. Daher wird er manchmal auch Prozentwürfel oder W% genannt.
Was ist falsch mit dem W100? (emotionales Argument)
Der W100 ist langweilig. Er hat den Charme von Steuererklärungen und Excel-Tabellen. Ich freue mich für jede Person, die Steuererklärungen und Excel-Tabellen liebt und mit dem W100 glücklich ist. Ich zähle nicht dazu. Ich mag zwölfseitige und achtseitige Würfel. Ich schätze den W20 schon dafür, dass er ein ikonisches Symbol für Rollenspiele ist. Selbst der klassischste aller Würfel – der W6 – hat mehr Charme als ein W100.
Zumindest für mich. Ich bin im Grunde meines Herzens Ästhet, und dieses Gefühl spielt mit. Aber das ist nicht der einzige Grund für meine Abneigung gegen denn W100.
Der W100 täuscht uns (logisches Argument)
Fans von W100-Systemen führen gerne an, dass sie besonders intuitiv sind. Als Spieler:in kennst du deine prozentuale Wahrscheinlichkeit auf Erfolg. Menschen verständen das sofort, schließlich haben sie immer und überall mit Wahrscheinlichkeiten zu tun. Und genau hier setzt meine Kritik an. Denn W100-Systeme verkennen völlig die Art und Weise, wie Menschen Wahrscheinlichkeiten betrachten. Menschen sind notorisch schlecht darin, Wahrscheinlichkeiten abzuschätzen. Wir machen es zwar ständig, aber wir machen es ebenso ständig falsch. Menschen können jeden Tag mit dem Auto fahren und Angst vor Flugreisen haben, obwohl einem ein Auto statistisch gesehen mehr Angst machen sollte. Sie nehmen keinen Zucker mehr zu sich, rauchen aber trotzdem wie ein Schlot. Das hängt auch damit zusammen, dass Wahrscheinlichkeiten weniger intuitiv sind, als man gemeinhin annimmt, und dadurch die Illusion erzeugen, etwas richtig abschätzen zu können.
Wie oft hören wir Leute sagen: „Das klappt zu 100%!“ oder „Das hat Null Chance auf Erfolg!“ – nur dass sie am Ende völlig falsch liegen? Und während wir eine 50:50-Chance noch halbwegs realistisch einschätzen können (entweder klappt es oder nicht), bin ich überzeugt, dass die meisten Menschen nicht wirklich verstehen, was eine Chance von 35% auf Erfolg bedeutet. Klar, es ist besser als 30% und schlechter als 40% und nur halb so gut wie 70%. Aber darüber hinaus wird es bei den meisten Menschen aufhören.
Bei W100-Systemen tappt man leicht in die Falle, nach Wahrscheinlichkeiten zu spielen, die im Grunde genommen sehr abstrakt und kontraintuitiv sind. Sie täuschen eine Art von Objektivität und statistischer Sicherheit vor, die viele Statistiker:innen vermutlich nicht bezeugen würden. Zudem können sie schnell zu Diskussionen am Spieltisch führen, ob eine andere Wahrscheinlichkeit nicht viel „realistischer“ wäre.
Wahrscheinlichkeiten sind kontraintuitiv
Ein zusätzlicher Faktor ist, dass die allermeisten Menschen feinkörnige Schritte nicht abschätzen können. Eine Skala von 1 bis 10 bekommen wir noch hin. Die numerische Rating-Skala zur Angabe von empfundenen Schmerzen agiert auch deswegen mit den Werten 0 bis 10. Kaum ein Mensch wird sagen: „Das tut mir zu 57% weh.“ Viele andere Ratingsysteme bewegen sich nur auf einer Skala von 1 bis 5. Denn in diesen Granulierungen können wir unsere (subjektive) Einschätzung einer Lage halbwegs sicher erfassen.
Die meisten W100-Systeme sind sich dieser Problematik bewusst. Daher werden Modifikationen mindestens in 5er-Schritten, wenn nicht gleich in 10er-Schritten angeführt. Es ist auch einfacher zu merken, dass etwas Kniffeliges –10% und etwas Schwieriges –20% bedeutet, als für zig Situationen festzuhalten, dass der eine Faktor nun –17% und der andere +2% bedeutet. Wenn man aber ohnehin schon in diesen Schritten agiert, kann man direkt den W20 nehmen. Der sieht zudem schöner aus.
Was besser funktioniert
Natürlich gibt es in jedem Rollenspiel eine Wahrscheinlichkeitsverteilung, mal mehr, mal weniger linear. Und mit etwas Übung kann sie in etwa einschätzen. Trotzdem bleibt am Ende normalerweise nur eine vage (und sehr subjektive) Vorstellung davon, ob das, was man tun will, leicht oder schwer ist.
Deswegen bevorzuge ich abstraktere Systeme. Die klassische Version der Year Zero Engine funktioniert zum Beispiel so: Würfle eine bestimmte Anzahl an W6, und jeder Würfel, der eine 6 zeigt, ist ein Erfolg. Wie hoch ist wie Wahrscheinlichkeit, mit drei Würfeln eine oder mehrere Sechsen zu erzielen, im Vergleich zu fünf Würfeln? Ich kann es nachschlagen, doch – who cares? Ohne sich mit konkreten Wahrscheinlichkeiten (und den damit verbundenen Fallen) beschäftigen zu müssen, werden die meisten Personen intuitiv verstehen, dass es besser ist, mit fünf statt mit drei Würfeln zu würfeln.
Das Gleiche gilt für Savage Worlds. Du würfelst einen Würfel von W4 bis W12 und versuchst, eine möglichst hohe Zahl zu erzielen. Natürlich ist der zwölfseitige Würfel besser als der vierseitige. Und mehr muss ich eigentlich schon nicht wissen.
W100-Systeme geben die Illusion, verlässlich und intuitiv zu sein, scheitern aber an der Annahme, dass wir in etwas gut sind, worin wir notorisch schlecht sind. Daher mag ich den W100 nicht und habe meine Schwierigkeiten mit Systemen, die darauf basieren.
Darüber hinaus halte ich es mit Han Solo.